Kalbotyra ISSN 1392-1517 eISSN 2029-8315

2023 (76) 7–17 DOI: https://doi.org/10.15388/Kalbotyra.2023.76.1

Papers

Poetische und theatersprachliche Okkasionalismen: Schöpfung neuer morphologisch komplexer Wörter bei Joseph von Eichendorff, Johann Nepomuk Nestroy, Peter Handke & Arno Schmidt

Wolfgang U. Dressler
Institute for Linguistics at the University of Vienna & Austrian Centre
for Digital Humanities and Cultural Heritage at the Austrian Academy of Sciences
Bäckerstraße 13
A-1010 Wien, Austria
E-mail:
wolfgang.dressler@univie.ac.at

Barbara Tumfart
Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage
at the Austrian Academy of Sciences
Bäckerstraße 13
A-1010 Wien, Austria
E-mail:
barbara.tumfart@oeaw.ac.at

† Dietmar Kunisch
im August 2023 verstorben, Iffeldorf, Germany

Vanessa Hannesschläger
Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage
at the Austrian Academy of Sciences
Bäckerstraße 13
A-1010 Wien, Austria
E-mail:
vanessa.hannesschlaeger@univie.ac.at

Poetic and theatrical occasionalisms: Creation of new morphologically complex words by Joseph von Eichendorff, Johann Nepomuk Nestroy, Peter Handke & Arno Schmidt

Abstract. This contribution characterises and differentiates the poetic occasionalisms in the form of new morphologically complex words created by the early romantic German lyrical poet Joseph von Eichendorff, by the Austrian Nobel Prize winner for literature Peter Handke and by the extravagant German prosaic author Arno Schmidt and the occasionalisms created by the most famous Austrian comedy writer Johann Nepomuk Nestroy.
The concept and term occasionalism has been founded by the Russian pioneer of stylistics Erik J. Chanpira (1996, see § 2) and defined as a newly created morphologically complex poetic word destined to be used with a literary function only once for a single passage and which is not taken over by anybody else. This definition holds for the authors investigated, except Eichendorff who reuses occasionalisms, which may be also reused by other lyrical poets of the same period or even later.
The main part (§ 3) consists of the discussion of 17 criteria for characterising and differentiating the occasionalisms studied. These are productivity of word formation, literary functions, main content, single use vs. reuse of them, consequences of the noun bias of German and of the preference for binary relations, size of the word families of compound constituents (especially of the first constituent), the degree of poetic licence, semantically coherent vs. incoherent combination of words within a compound, embedding into the cotext and into the situational context, gapping constructions and their make-up, preference for compounding vs. derivational morphology.
The conclusion and outlook (§ 4) present proposals how literary studies may profit from investigations of poetic and theatrical occasionalisms, which represent the highest degree of language creativity of literary authors. We urge that theatre productions should highlight occasionalisms and report that Nestroy’s German occasionalisms are generally better translated into English by programs of machine translation then by human translators.
Keywords: occasionalism, degrees of poetic licence, poetic functions, theatrical functions

______

Submitted: 30/11/2023. Accepted: 18/12/2023
Copyright © 2023
Wolfgang U. Dressler, Barbara Tumfart, Dietmar Kunisch, Vanessa Hannesschläger. Published by Vilnius University Press
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License, which permits unrestricted use, distribution, and reproduction in any medium, provided the original author and source are credited.

1 Einleitung

Das übergeordnete Ziel dieses Aufsatzes ist es, einen neuen linguistischen Beitrag für die Untersuchung von dichterischer Kreativität durch die Literaturwissenschaft zu liefern. Denn Okkasionalismen repräsentieren ein Höchstmaß an sprachlicher Kreativität eines Dichters. Dies wollen wir durch Charakterisierung und Differenzierung der Okkasionalismen von Joseph von Eichendorff, Johann Nepomuk Nestroy, Peter Handke und Arno Schmidt erreichen.

Die Motivationen für die Auswahl dieser Autoren sind:

  1. Der vor kurzem verstorbene Drittautor war ein Spezialist der Literatur Eichendorffs, die Zweitautorin ist eine Spezialistin für Nestroy sowie die Viertautorin für Handke. Alle haben bereits gut mit dem Erstautor zusammengearbeitet, der als Linguist seit mehr als vierzig Jahren immer wieder über dichterische Okkasionalismen publiziert hat.
  2. Eichendorff war ein hervorragender frühromantischer Lyriker, Nestroy war und ist der wichtigste österreichische Komödiendichter, Handke ist österreichischer Nobelpreisträger für Literatur, Schmidt hat uns durch seine besonders kühne poetische Lizenz beeindruckt. Wir beschäftigen uns also sowohl mit lyrischen als auch theatersprachlichen Okkasionalismen sowie mit Okkasionalismen zweier sehr unterschiedlicher Prosaautoren.
  3. Alle Autoren haben einen starken Österreichbezug: Von den beiden deutschen Autoren war Eichendorff während eines langen Jugendaufenthalts in Wien (1810–1813) entscheidend von der literarischen und intellektuellen Atmosphäre in Wien beeinflusst. Schmidt war einerseits sehr von Sigmund Freud und dem philosophischen Wiener Kreis beeinflusst, andererseits war er so österreichkritisch eingestellt, dass er sein Misstrauen an Musik damit begründete, dass Österreicher so viel in dieser geleistet haben.

Für Nestroy und Handke gilt, so wie für einen bedeutenden Teil der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, die Wichtigkeit der Thematisierung der Sprache, ebenso in der gleichzeitigen Literatur und Philosophie in Österreich: Weiss (1995, 199) spricht in diesem Zusammenhang von einem „relativ konstant[en] Miteinander bzw. Nacheinander von Sprachskepsis, Sprachkritik und Sprachmagie“, von einer „Sprachbesessenheit der österreichischen Literatur“ sowie von „Sprache wird durch die österreichischen Dichter nicht nur in ihrer primären Funktion als ein Instrument der Bezeichnung, der Beschreibung oder der Mitteilung eingesetzt, sondern vielmehr um ihrer selbst willen erprobt, untersucht und poetisch genützt“. Schon Karl Kraus (1912) bezeichnete Nestroy aus Anlass dessen 50. Todestages als „erste[n] deutsche[n] Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge“ (vgl. auch Panagl 2003, 162f.). Auch dies erklärt die große Zahl der Okkasionalismen bei beiden. Ein analoger Einfluss der Philosophie in Österreich kann auch für Arno Schmidt behauptet werden.

Nach einer Definition dichterischer Okkasionalismen im Kontrast zu Neologismen und einer kurzen Forschungsgeschichte zu Okkasionalismen kommen wir zum Hauptthema: zu den sechzehn Kriterien zur Charakterisierung und Differenzierung der Okkasionalismen dieser Autoren.

2 Definition und kurze Forschungsgeschichte

Wir definieren Okkasionalismus wie der russische Pionier der Stilistik Chanpira (1996) als ein neu geschaffenes morphologisch komplexes dichterisches Wort definiert, welches für einen einmaligen Gebrauch mit einer literarischen Funktion an einer einzigen Textstelle bestimmt ist. Deshalb wird es auch nicht von anderen wiederverwendet.

Hingegen wird ein Neologismus für eine dauerhafte Verwendung in der Alltags- oder in einer Fachsprache geschaffen und fast nie von einem Dichter. Für die Bildung von Neologismen in Fachsprachen gibt es genaue Vorschriften in der Terminologielehre und in den Instruktionen für Terminologiebildung. Für Neologismen in der schriftlichen Alltagssprache gibt es zumindest für Printmedien eine gewachsene Tradition (vgl. mit viel Literatur zur sprachlichen Kreativität Stanlaw 2020).

Poetische und theatersprachliche Okkasionalismen sind hingegen nicht an eine feste Tradition gebunden und ihre Bildung hängt vom Grad der poetischen Lizenz in einem Werk und von deren Richtung ab. Dies zeigen die Publikationen von Christofidou (1994) zu Okkasionalismen des griechischen Symbolisten Elytis in einer (von Dressler als Dissertation betreuten) Monographie, Dressler und Tumfart (2017) zu Nestroy, Hannesschläger und Dressler (2017) zu Handke.

Vorher hatte Dressler seit 1981 (viel oberflächlicher) zu Okkasionalismen altgriechischer, lateinischer, deutscher, englischer, französischer, italienischer, russischer und polnischer Autoren gearbeitet (vgl. zu poetischer Lizenz Dressler und Panagl 2007). Andere Autoren, welche explizit über Okkasionalismen anderer Autoren als die von uns untersuchten erwähnen wir nicht (doch s. Dressler & Panagl 2007).

3 Kriterien

Die Daten stammen aus Eichendorffs Gedichtgesamtwerk, aus den Publikationen von Dressler und Tumfart (2017) zu Nestroys Volksstücken Mädl, Zerrissene, Gewürz, von Hannesschläger und Dressler (2017) zu Bildverlust, Kali und aus den folgenden Prosatexten Schmidts: Caliban über Setebos, Die Gelehrtenrepublik, Faun, Kosmas, Pocahontas.

1) Produktivität: Nominale Kompositionsbildung ist im Deutschen, wie in den anderen germanischen Sprachen, produktiver als die meiste derivationelle Morphologie. Dementsprechend bilden auch unsere Autoren (so wie die meisten anderen deutschen Autoren) mehr okkasionalistische Komposita als Derivationen, außer Schmidt, z.B. die Wolk+in (Kosmas p.490; dazu später mehr).

2) Funktionen: Eichendorff bildet sie hauptsächlich zum Ausdruck nostalgischer Idealisierung der Natur, oft in synästhetischer Verbindung mit vergleichbaren Phänomenen, z.B. Buchen+halle mit Säulenhalle (vgl. Bormann 1968 zu Eichendorffs oft formelhafter Naturbegeisterung im Sinne des Topos der redenden Natur (Natura loquitur); er fühlte sich als Naturpoet und Sänger darüber). Nestroy bildet sie immer für Überraschungseffekte, oft als Klimax oder zur satirischen Sprachreflexion, z.B. in so einfältig ange+ver+selt+en Landnatur (Zerriss II.9 mit ironischer Diminutivierung eines okkasionalistischen Partikelverbs), zur Verspottung der damaligen exzessiven Naturverehrung oder in Verspottung der Juristensprache, z.B. Be+augenschein+ig+ung der Pachthöfe (Zerriss II.33); Handke drückt mit Okkasionalismen fast immer die Pluralität koexistierender Erscheinungen aus, z.B. In meiner Kindergegend. Oder nein, in der Nachbargegend (Kali p.30); Schmidt liebt witzige Neubildungen, so das bereits genannte Beispiel Wolk+in.

3) Dem vorangegangenen Punkt entsprechend sind die spezifischen Hauptinhalte bei Eichendorff die Natur (Wald, rauschendes Meer, Felsen, blühende Gärten, besonders im Frühling), aufragende Burgen (vgl. Bormann 1968, 46f., 104, 114ff.); bei Nestroy oft satirische oder sarkastische Kritik oder Nörgelei; bei Handke die große Varietät der Welt und Isomorphismus von Sprachwelt und poetischer Welt von Ideen; bei Schmidt seine extravagante Weltsicht.

4) Der Definition Chanpiras entsprechend (§ 2) verwenden unsere Autoren ihre Okkasionalismen nur ein einziges Mal, außer Eichendorff.

5) Analog werden fast nur Eichendorffs Okkasionalismen von zeitgenössischen Autoren verwendet, so von Uhland, Tieck, Hölderlin, Schlegel, von Fallersleben, Brentano, Mörike, Freiligrath. Aber oft kann man gar nicht feststellen, wer einen Okkasionalismus zuerst gebildet hat.

6) Wegen der noun bias des Deutschen verwenden alle Autoren vor allem okkasionalistische Nomina, besonders nur aus Nomina bestehende Komposita. Wiederum ist Schmidt eine Ausnahme, weil er auch viele Derivationen bildet, so die aus Nomina abgeleiteten Adverbia, in er stand immer noch präsident+en, monument+en, potentat+en, iguanodont+en (Faun p.305).

7) Wegen der allgemeinen Präferenz aller Sprachen für zweigliedrige Wortbildungen (wegen der semiotisch und kognitiv begründeten Präferenz für binäre Verbindungen) bilden unsere Autoren nur wenige mehrgliedrige Komposita, so Eichendorff dreigliedrige, z.B. Zorn-es+wetter+wolken, Nestroy auch wenige viergliedrige, z.B. Hinter+die+Ohren+hab+igkeit (Gewürz III-27), Handke Fließ+wasser+schwarz-Wechseln (Kali p.10), Schmidt hat viele dreigliedrige okkasionalistische Komposita wie Pfeffer+minz+lippen (Pocahontas p.61), Vier+loch+knopf (Pocahontas p.63), das koordinierte Dohlen+krähen+elstern (Pocahontas p.27) und das viergliedrige Binsen+welten+welten+inseln (Pocahontas p.66).

8) Die Größe der Wortfamilien der Glieder von Komposita ist bei Eichendorff groß, besonders des Erstglieds, welches für die Textkohäsion und Textkohärenz wichtiger ist als das Zweitglied (s. Dressler & Mörth 2012), z.B. in Wald-es+einsamkeit (I.135), Geht diese Waldesweise, Wald-es+schatten (I.143), Wald-es+Saum, Wald-es+Garten; dasselbe gilt für die anderen Autoren, außer für Nestroy, der oft kleine Wortfamilien aufweist, so in Mathilde-n+schnipfer ‘Mathildenstehler’ (Zerriss I.7), vgl. den Spottnamen Äpfelschnipfer des verrückten Bayrischen Königs Ludwig I., welcher auf seinen Reisen über Land oft Äpfel von den Bauern für sich pflückte (alle vom jetzt obsoleten Verb schnipfen ‚entwenden‘ abgeleitet).

9) Die semantische Kombination der Kompositionsglieder passt, so wie in der Alltagssprache, außer manchmal bei Nestroy, z.B. in Liebe-s+mathematiker (Mädl III.42): Es gibt im Deutschen viele Komposita, welche mit Liebe+ beginnen oder mit +mathematik enden, aber Liebe passt mit Mathematik als Hauptglied eines Kompositums semantisch nicht zusammen; selbst aus der Nominalphrase Liebe zur Mathematik wurde kein Kompositum Mathematikliebe (mit Liebe als Hauptglied) gebildet. Bei Schmidt haben wir ein einziges semantisch inkohärentes Kompositum gefunden (Faun p.307): in mein nächstes Lach+schreiben (sic), wobei die Klammer andeutet, dass er diese Bildung selbst für inkorrekt hält.

10) Da die den Rezipienten unbekannten Okkasionalismen Probleme für die leichte Verständlichkeit bieten können, betten Autoren sie gewöhnlich zur Verbesserung der Verständlichkeit im Kotext ein, so z.B. Eichendorff: Wald-es+einsamkeit (1.135) im Kotext die Bäume rauschen, die Bäume träumend lauschen; auch Nestroy bereitet seine Okkasionalismen gut vor: Na, wenn sich zum Beyspiel Einer aus Liebe zu dir was angethan hätt’, wärst du seine indirecte Mörderin, Tod+geber+in par distance (Zerriss I.29); so auch Handke: das Aussehen von überdimensionalen Käfigen hatten, Spiel-Käfigen, Schein+käfig+ruten (Kali p.68), Schmidt hingegen tut dies selten, etwa in Mond+schnitzel nach existierenden Mond-Komposita (Faun p.145).

11) Einbettung in den situativen Kontext ist seltener: So verspottet Nestroy die Sprache der Justiz im Okkasionalismus Schlossersäufung-s+Inzicht (Zerriss III.7) mit Haplologie von er+er+ in gemeintem Schlosser + Ersäufung sowie in die absichts+verrathenden Worte des Testament-Wiederrufes im Rahmen einer ironischen Szene eines Rechtsverfahrens. Eichendorff bereitet oft Okkasionalismen in einem Gedichtstext durch den Titel eines Gedichts oder einer ganzen Gedichtserie vor, so in der Serie Frühling und Liebe die Okkasionalismen Frühling-s+dämmerung (I.274), Frühling-s+dämmern (I.250), Frühling-s+marsch, Frühling-s+netz (beide I.264). Hingegen haben wir bei Schmidt keinen Fall gefunden, wo ein Buchtitel einen Okkasionalismus vorbereitet.

12) Gapping-Konstruktionen (Reduktion in Koordinierte Komposita mit Auslassung desselben Kompositionsglieds), welche Okkasionalismen enthalten, und die Zahl der darin kombinierten Komposita bilden ein weiteres Kriterium: Nestroy bildet sehr wenige, z.B. Knie- und Fersen+distanz (Mädl I 8); Eichendorff hat gar keine Okkasionalismen in seinen seltenen Gapping-Konstruktionen, Schmidt: ganz wenige, z.B. in Faun (p.321) mit einem Okkasionalismus: Das ganze Volk ist ergriffen vom Orden- und Abzeichen+fimmmel.

Ganz anders Handke: Hannesschläger und Dressler (2017) haben die besonders ikonische Koexistenz von Elementen und deren Pluralität in seiner poetischen Welt gezeigt: So koordiniert er oft viele koordinierte Komposita (und darunter immer okkasionalistische), z.B. Er ist mein Berg- und Tal-, mein Seil-, Steppen- und Wüsten+gefährte (Kali p.19) oder das existierende Kompositum Seitwärtswurzeln mit okkasionalistischem Wurzel+bruchstück, sozusagen der Mutterwurzel und okkasionalistischen Wurzel+hemisphären.

13) Interne semantische Relationen in Gapping-Konstruktionen weisen bei keinem Autor Kontradiktionen auf, d.h. es besteht immer eine Ikonizität zwischen enger Beziehung in Form und Bedeutung.

14) Eine semantische kotextuelle Vorbereitung des Verständnisses okkasionalistischer Komposita in oder unmittelbar vor Gapping-Konstruktionen ist selten: So endet bei Nestroy eine Unterhaltung über Blumen und Birnen mit Blumen- und Obst+Verlust (Mädl III.1); ein Beispiel aus Handke ist Explosionen, noch und noch, Knattern, Rattern, darauf die beiden Okkasionalismen Todes+gurgeln, Weiter+knattern, -explodieren (Kali p.17).

15) Besonders wichtig für die Differenzierung von Okkasionalismen ist die Skalierung der Grade der Kühnheit der poetischen Lizenz: Jeder Okkasionalismus ist eine Abweichung von der lexikalischen Norm nur existierende komplexe Wörter zu verwenden, was den leichtesten Grad von Kühnheit darstellt; die Verletzung einer Interfigierungsnorm ist nicht viel kühner, weil Interfixe meist bedeutungslos sind (aber nie in Aphasie: Dressler et al. 2011). Den nächsten Grad an poetischer Lizenz stellen mit unproduktiven Wortbildungsregeln kreierte Okkasionalismen dar: So bildet Hermann Broch in seinem „Tod des Vergil“ nach dem Vorbild von Hunderte und Aberhunderte (nur Abertausende existieren und Abermillionen usw. sind möglich) viele okkasionalistische Komposita in seinen häufigen Phrasen des Typs Tod und Aber+tod. Bewusste poetische Verletzungen der morphologischen Grammatik in der Bildung ungrammatischer Komposita sind noch viel kühner. Kühn sind auch extragrammatische Bildungen wie Kontamination (Dressler 2007).

Eichendorff hat nur Interfigierungsverletzungen, z.B. Eich-es+wipfel (I.163) statt Eich-en+wipfel, analog Handke Studentin+zimmer (Bildverlust p.13) ohne das Interfix -en. Nestroy hat eine Interfigierungsverletzung in Alle+tag-s+genüsse (Mädl II.7), aber auch ungrammatisch Kokett+ur (Mädl II.4) statt dem französischen Fremdwort Koketterie. Hingegen ist Schmidt auch insofern ganz extravagant, weil oft sehr kühn durch die Bildung ungrammatischer Okkasionalismen wie Tier+ung-s+Sinn (Caliban p.496) mit einer wortspielerischen Zerlegung von Orientierungssinn in Frz. oh rien ʻoh nichtsʼ und einen Okkasionalismus (+ung-Derivationen sind nur von verbalen Basen grammatisch) oder wie das bereits genannte Wolk+in, was zweifach ungrammatisch ist: Erstens ist Femininmotion nur von maskulinen Substantiven grammatisch, zweitens nur von Menschen (z.B. Lehrerin) und von Tieren, welche für den Menschen pragmatisch wichtig sind, wie in Hündin, während im Flohlied nicht von Flöhinnen die Rede ist, obwohl von weiblichen Flöhen geredet wird. Keiner unserer Autoren bildet Okkasionalismen mit unproduktiven Wortbildungsregeln.

Beispiele von extragrammatischen Kontaminationen (blends) sind bei unseren Autoren ganz selten: Eichendorff hat nur Pinaglypthek (I p.45: Wanderlieder 2) gebildet aus den Namen zweier berühmter Münchner Museen Pinakothek und Glyptothek. Dabei verstößt diese Kontamination gegen die üblichen Konventionen (zu erwarten wäre Pinaglyptothek). Schmidts (Erato p. 25) Tartarostigkeiten, eine haplologische Kontamination aus Tartaros und dem ungewöhnlichen Plural vom Rostigkeit.

16) Deutsch ist wie alle anderen germanischen Sprachen eine kompositionale Sprache, während romanische und slawische Sprachen derivationale Sprachen sind, was sich auch in der Bildung von Neologismen zeigt. Analog bilden alle von uns untersuchten Autoren viel mehr okkasionalistische Komposita als Derivationen, wieder mit Ausnahme des auch hier extravaganten Schmidt.

4 Konklusionen und Ausblicke

Für unser Hauptziel der Nutzbarmachung linguistischer Analysen poetischer und theatersprachlicher Okkasionalismen für die Literaturwissenschaft haben wir folgende Vorschläge, darauf basierend, dass Okkasionalismen besonders wichtige Belege der sprachlichen Kreativität literarischer Autoren sind:

  1. Solche linguistische Analysen können der Literaturwissenschaft konkrete sprachliche Evidenzen für das spezifische Stilwollen von Autoren zur Verfügung stellen, so im Einklang mit den Funktionen von Nestroys Theatertexten vs. lyrischer bei Eichendorff vs. Prosatexten bei Handke und Schmidt, ferner für die jeweilige poetische Welt der Autoren: so verwendet Handke in den von uns untersuchten Romanen in seiner neoklassischen Periode viele Okkasionalismen, in seiner Frühzeit (z.B. in der „Publikumbeschimpfung“) gar keine.
  2. Weiters bieten diese Analysen Evidenzen für den Grad an kreativer Kühnheit jedes Autors.
  3. Für Eichendorff liefern sie wichtige Belege für literarische Abhängigkeiten und Ähnlichkeiten zwischen Autoren.
  4. Nützlich wäre es auch, wenn Literaturwissenschaftler, analog zur Textlinguistik, schärfer zwischen Kontext und Kotext unterscheiden würden.
  5. Da Nestroy Okkasionalismen für besondere theatralische Effekte geschaffen hat, oft als Klimax, sollten Bühnenaufführungen für deren effektvolle Darbietung sorgen. Jedoch sprechen viele Schauspieler diese nicht effektvoll aus, ohne prosodische Hervorhebung, sozusagen als unbedeutend. So hat es der Erstautor in Wien im Burgtheater und im Theater in der Josefstadt erlebt. Auch Regisseure unterschätzen Okkasionalismen: So wollten Germanisten in Italien Nestroys Okkasionalismen durch italienische Okkasionalismen übersetzen. Aber zwei berühmte italienische Regisseure protestierten mit Nessuno parla così! ‘So spricht doch niemand!’ und verlangten, dass diese Okkasionalismen durch Paraphrasen ersetzt werden.
  6. Kolb, Mattiello & Dressler (2023) haben gezeigt, dass automatische elektronische Übersetzungen von Nestroys Okkasionalismen ins Englische öfter besser als humane sind, die sehr oft Okkasionalismen gar nicht übersetzen, d.h. die entsprechende Passage unübersetzt lassen oder so übersetzen, dass sie die effektvollen Okkasionalismen des Ausgangstexts durch viel weniger effektvolle quasi-synonyme Wörter oder syntaktische Paraphrasen wiedergeben. Dieses Ergebnis stellt eine Provokation für manche Literaturwissenschaftler dar, welche glauben, dass Computerprogramme mit literarischer Sprache nichts anfangen können.

Danksagung

Wir danken dem Arno-Schmidt-Spezialisten Armin Eidherr (Universität Salzburg) für seine Kommentierung unserer Aussagen zu Arno Schmidt.

Quellenverzeichnis (samt Abkürzungen)

Bildverlust: Peter Handke. 2007. Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Caliban: Arno Schmidt. (1964) 1970. Orpheus: Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag. 7–65.

Die Gelehrtenrepublik: Arno Schmidt. (1957) 1965. Die Gelehrtenrepublik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag.

Eichendorff I: Joseph von Eichendorff. 1909. Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Band. Paul Ernst, ed. München: Georg Müller.

Eichendorff II: Joseph von Eichendorff. 1909. Gesammelte Werke. Der Gedichte zweiter Band. Paul Ernst, ed. München: Georg Müller.

Faun: Arno Schmidt. (1951) 1973. Aus dem Leben eines Fauns. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag.

Gewürz: Johann Nestroy. (1841) 1977–2004. Das Gewürzkrämer-Kleeblatt. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier & W. Edgar Yates, eds. Wien: Deuticke.

Kali: Peter Handke. 2002. Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kosmas: Arno Schmidt. (1955) 1987. Kosmas oder Vom Berge des Nordens. Bargfelder Ausgabe: Werkgruppe 1, Bd. 1. Zürich: Haffmans.

Mädl: Johann Nestroy. (1845) 1977–2004. Das Mädl aus der Vorstadt. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier & W. Edgar Yates, eds. Wien: Deuticke.

Pocahontas: Arno Schmidt. (1955) 2022. Seelandschaft mit Pocahontas. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Zerriss: Johann Nestroy. (1844) 1977–2004. Der Zerrissene. Johann Nestroy: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier & W. Edgar Yates, eds. Wien: Deuticke.

Bibliographie

Bormann, Alexander. 1968. Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff. Tübingen: Niemeyer.

Chanpira, Erik J. 1996. Ob okkazional’nom slove i okkazional’nom slovoobrazovanii. [Über das okkasionelle Wort und die okkasionelle Wortbildung]. Razvitie slovoobrazovanija sovremennogo russkovo jazyka. [Entwicklung der Wortbildung in der modernen russischen Sprache]. Elena A. Zemskaja & Dmitrij N. Šmelev, eds. Moskau: Nauka. 153–166.

Christofidou, Anastasia. 1994. Okkasionalismen in poetischen Texten: Eine Fallstudie am Werk von O. Elytis. Tübingen: Narr.

Dressler, Wolfgang U. 1981. General principles of poetic license in word formation. Logos Semantikos. Fs. E. Coseriu II. Berlin: de Gruyter & Madrid: Gredos. 423–431.

Dressler, Wolfgang U. 2007. Produktivität und poetische Lizenz. Poetische Lizenzen. Wolfgang U. Dressler & Oswald Panagl, eds. Wien: Praesens Verlag. 8798.

Dressler, Wolfgang U., Jacqueline A. Stark, Christiane Pons, Karin Nault, Gonia Jarema & Gary Libben. 2011. Interfix knowledge is fixed: Evidence from the composition of German compounds by persons with Aphasia. Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 136 (2), 5–30.

Dressler, Wolfgang U. & Karlheinz Mörth. 2012. Produktive und weniger produktive Komposition in ihrer Rolle im Text an Hand der Beziehungen zwischen Titel und Text. Das Deutsche als kompositionsfreudige Sprache. Livio Gaeta & Barbara Schlücker, eds. Berlin: de Gruyter. 219–233.

Dressler, Wolfgang U. & Oswald Panagl, eds. 2007. Poetische Lizenzen. Wien: Praesens Verlag.

Dressler, Wolfgang U. & Barbara Tumfart. 2017. Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) als großer Wortbildner: Neue korpuslinguistische Ansätze für die Auswertung okkasionalistischer Neubildungen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47, 563–594.

Hannesschläger, Vanessa & Wolfgang Ulrich Dressler. 2017. Poetische Brücken über sprachliche Lücken. Kompositabildung und Gapping in Peter Handkes „Bildverlust“ und „Kali“ analysiert mit korpuslinguistischen Methoden. Studia austriaca 25, 119–139. https://doi.org/10.1553/Poetische_Okkasionalismen

Kolb, Waltraud, Elisa Mattiello & Wolfgang U. Dressler. 2023. Human and machine translation of occasionalisms in literary texts: Johann Nestroyʼs Talisman and its English translations. Target: International Journal of Translation Studies 31. Online: http://doi.org/10.1075/target.21147.kol. Letzter Zugriff: 12.06.2023.

Kraus, Karl. 1912. Nestroy und die Nachwelt. Zum 50. Todestage. Die Fackel, Nr. 349/350 vom 13. Mai 1912, S. 12.

Panagl, Oswald. 2003. Im Anfang war das Wort. Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst. Walter Berka, Emil Brix & Christian Smekal, eds. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag. 149–168.

Stanlaw, James. 2020. Language and Creativity: Introduction. The International Encyclopedia of Linguistic Anthropology. James Stanlaw, ed. Malden: Wiley-Blackwell. 13. https://doi.org/10.1002/9781118786093.iela0188

Weiss, Walter. 1995. Zur Tradition der Thematisierung der Sprache in der österreichischen Literatur. Sprachskepsis und Sprachmagie bei Georg Trakl und Peter Handke. Annäherungen an die Literatur(wissenschaft). Band I. Literatur-Sprache. Walter Weiss, ed. Stuttgart: Heinz. 199–210.