Teisė ISSN 1392-1274 eISSN 2424-6050

2019, vol. 110, pp. 158–167 DOI: https://doi.org/10.15388/Teise.2019.110.10

Professor Leo Leesment (1902–1986) als Mensch und als Lehrkraft der Universität Tartu

Peeter Järvelaid

Professor, Dr.
Universität Tallinn
Telefon +372 6199 950
E-Mail: <peeter.jarvelaid@tlu.ee>

Leo Leesment (17.04.1902 Riga – 16.01.1986 Tartu), ein Mitglied der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, gehört zu jenen Persönlichkeiten der estnischen Rechtsgeschichte, die mehrere Kulturgrenzen überschritten in ihrem Leben. Ihm gebührt die Ehre als erster nach 1920 eine Magisterarbeit an der Tartuer juristischen Fakultät geschrieben zu haben (erster estnischer Magister der Fakultät überhaupt war Nikolai Maim) und der erste Este zu sein, der in Tartu über Rechtsgeschichte promovierte. Mit seinen Forschungen zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte wurde er zum international zitierten Autor sowohl im deutschen als auch im französischen Sprachraum. In Tartu unterrichtete er mit Unterbrechungen seit 1928 und hielt bis zu seinem Tod 1986 akademische Verbindungen mit den Rechtshistorikern seiner Alma mater aufrecht.

Schlüsselwörter: der estnischen Rechtsgeschichte, der Tartuer juristischen Fakultät, mittelalterlichen Rechtsgeschichte.

Received: 8/5/2018. Accepted: 6/12/2018
Copyright © 2019
Peeter Järvelaid. Published by Vilnius University Press
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Einleitende Bemerkungen

Warum von einem Menschen berichtet und geschrieben wird, wenn seit seiner Geburt ein Jahrhundert vergangen ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die Gründe dafür, dass beim Berichten über Professor Leo Leesment an die Theorie der Kulturgrenzen gedacht werden muss, sollte sicherlich für manchen jüngeren Leser erläutert werden. Doch dies kann mit einem Satz geschehen, denn meiner Meinung nach bestand Leesments Leben in der Bewegung zwischen den Kulturgrenzen1. Wenn noch nach einem weiteren emotionalen Grund gesucht wird, dann empfehle ich einem zukünftigen Biografen Leesments, einen Blick auf das Foto seiner Beerdigung zu werfen. Beim Abschied von Leo Leesment in der Aula der Universität Tartu bemerkten die Kollegen der juristischen Fakultät, dass zahlreiche Mitarbeiter unterschiedlicher Fachbereiche erschienen waren und sie alle waren in irgendeiner Art mit Leesment zusammengetroffen. Im internationalen Maßstab war sicherlich der Tartuer Semiotiker Juri Lotmann unter den Anwesenden der bekannteste2.

Lotman, dem eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Theorie der Kulturgrenzen gebührt, kam, um eines Kollegen zu gedenken, mit dem zu kommunizieren ihm stets eine Inspiration gewesen sein soll. Lotman spricht von der Kulturgrenze als einer grauen Zone, die in sich die Informationen der Kulturpole verdichtet. An dieser Grenze besteht auch ein besonderes Talent zur Übersetzung. Wohl machte für Lotmann die Kommunikation mit Leesment nicht nur dessen enzyklopädisches Wissen über das breite Spektrum der Kultur und die große Reiseerfahrung in Europa interessant, sondern auch seine als an der Grenze Geborener bis zum Lebensende erhalten gebliebene kindliche Neugier und Interesse für den Vergleich der Kulturen3. Weder Lotman noch Leesment passten Zeit ihres Lebens in den sie umgebenen Rahmen. Zweifelsohne waren sie größer als der ihnen vorgegebene Raum, und auch wenn sie wenigstens äußerlich sich an den von den Mächtigen vorgegebenen Rahmen einfügten, so benötigte ihre Seele mehr Platz. Diese Offenheit der Seele verschaffte beiden Männern die Kommunikation in Tartu miteinander für wenigstens drei Jahrzehnte.

1. Quellen und Historiografie

Die Zeit vergeht schnell und wir vermögen zu sagen, dass Professor Leo Leesment schon fast zwei Jahrzehnte nicht mehr unter uns weilt, doch die wichtigste Quelle zu seinem Leben und seiner Arbeit ist noch unerschlossen – bis heute wurden die Erinnerungen an Leo Leesment derjenigen Menschen unterschiedlicher Fachrichtungen, mit denen er verkehrte, noch nicht gesammelt. Seine archivarischen Hinterlassenschaften befinden sich in Tartu im Geschichtsarchiv, in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek, im Literaturmuseum und auch im Universitätsmuseum. Im Archiv des Estnischen Radios sind Aufzeichnungen einer Sendung mit ihm vom Dezember 1981, eine Zusammenfassung erschien in dem Sammelband „Ungeschriebene Memoiren“ (1989)4.

Über seine wissenschaftliche Tätigkeit liegt die mit seiner Hilfe erstellte Bibliografie seiner Publikationen in maschinenschriftlicher Vervielfältigung vor. Zur Analyse der Unterrichtsaktivitäten gibt es seine Veranstaltungsskripte und Lehrmaterialien. Bis jetzt wurde nur in Nachschlagewerken oder in kurzen Aufsätzen anlässlich runder Geburtstage des bekannten Rechtshistorikers über sein Leben geschrieben. Die letzte gründliche Übersicht erschien 19925.

2. Leo Leesment als ausgebildeter Jurist der zweiten Generation

Der am 17. April 1902 in Riga als Sohn eines Advokaten geborene Leo Leesment erhielt anlässlich der Taufe den zweiten Namen Johann nach seinem Vater, der unter Esten aber einfach Jaan genannt wurde. Das Weiterreichen des Namens des Vaters an den Sohn ist oftmals mit Familientraditionen verbunden, doch weist diese Tatsache auf den verborgenen Wunsch des Vaters hin, der Sohn möge ebenfalls in seinem Amt tätig werden. Den Vater Jaan (Johann) Leesment finden wir in den publizierten Matrikeln der Universität Tartu als 1891 unter der Nummer 1527 Immatrikulierten6. Im Matrikel können wir nachlesen, dass er am 11. November 1870 in der Gemeinde Saarde geboren wurde und das Gymnasium in Pärnu absolviert hatte. Er studierte in Tartu von 1891 bis 1895 Jura. Wenn Jaan Leesment an sich gearbeitet hatte, um überhaupt die Standes-,Bildungs- und Kulturgrenzen des damaligen Livland zu überwinden, dann befand sich der Sohn einerseits in einer leichteren Situation, andererseits in einer schwierigeren. Der Vater hatte mehrere Markierungen gesetzt und erwartete vom Sohn, dass er diese überwinde. Jaan Leesment war vereidigter Advokat in Pärnu und als erster Este Bürgermeister der Stadt7. Er hatte in der Gartenstraße (Aia tänav) ein Heim errichtet, das bis heute im Stadtbild in die Augen sticht.

Dies alles verschaffte Leo Leesment natürlich eine gute Startposition verglichen mit vielen Altersgenossen, doch gleichzeitig erschwerte dies sein Leben stellenweise, denn von zuhause hatte er große Pflichten auferlegt erhalten. Zwischenzeitlich erschien es dem abseits stehenden Beobachter, dass das Vorbild und die Leistungen des Vaters und des Onkels, des Mediziners im Generalsrang Hans Leesment (1873–1944), einen ziemlichen Alpdruck in seinem Leben darstellten. Es ist ziemlich sicher, dass Leo Leesment bei seinen wichtigsten Entscheidungen keinesfalls so frei war wie Vater und Onkel bei der Selbstverwirklichung (der eine wählte Jura, der andere Medizin). Er musste die seinerzeit für einen Esten eher ungewöhnliche Aufgabe lösen, sich als Intellektueller der zweiten Generation durchzusetzen. Dies bedeutete das Überschreiten einer Kulturgrenze ähnlich wie für Vater und Onkel das Studium. Wenn diese beiden noch eine Reihe von Schicksalsgenossen in anderen Aufsteigern hatten, dann fühlte sich Leo Leesment angesichts der estnischen Umstände ziemlich allein. Dies erzeigte semiotisch eine komplizierte Situation – das Phänomen des lange an der Grenze verharrenden, nicht mehr zum Alten gehörenden, aber noch nicht das Neue darstellenden.

Wenn in der Jugend der Advokatensohn den kleinen Neid und die Entfremdung der direkt aus der Bauernhütte kommenden Mitschüler und Kommilitonen ertragen musste oder den kulturellen Unterschied spüren, dann beklagte er sich im Alter, dass er schon zu lange Zeit auf Erden verbringe – denn die alten Freunde seien schon verstorben. Leesment fühlte sich manchmal recht einsam unter so viel jüngeren Mitmenschen. Die neue Generation war nicht nur viel jünger, um sie psychologisch zu akzeptieren, doch trug sie auch eine andere Kultur in sich, was Leesment als toleranter Mensch wohl berücksichtigte, doch eigentlich nicht wirklich anerkannte.

3. Leo Leesment und die Universität Tartu

Leo Leesments Weg nach Tartu und an die Universität verlief keineswegs so geradlinig wie anfangs zu erwarten. In der ersten Zeit der Selbstfindung eröffnete sich ihm ein großes Interesse für den Orient und orientalische Sprachen, das während des ganzen Lebens wie eine zerbrechliche erste Liebe erhalten blieb, welche die Menschen oft immer mit sich tragen. Wäre die Geschichte anders verlaufen, dann hätte aus ihm ein Absolvent der Orientwissenschaften der St. Petersburger Universität werden können. Doch für die 1902 Geborenen wurde der Lebenslauf an mancher Stelle korrigiert, bevor sie das Gymnasium abschließen konnten.

Sein Vater als Jurist mochte diese Interessen nicht akzeptieren, der für seinen Sohn einen praktischen Beruf wünschte, den des Juristen. Der Generationskonflikt zuhause wurde aufs Erste verschoben, denn der Sohn schloss sich den Klassenkameraden an und kämpfte im Estnischen Freiheitskrieg. Der doch sehr unkriegerische Leesment erinnerte später, dass er sich die Schwierigkeiten des Kriegs wegen seiner Jugend angemessen vorstellen konnte. Im nachhinein schien ihm, dass die Gefahr das Leben zu verlieren ziemlich groß war, denn anfangs fehlte jegliche militärische Vorbereitung.

Nach dem Krieg zögerte er die Entscheidung über die weitere Ausbildung dadurch hinaus, dass er eine militärische Ausbildung durchlief und in den Jahren 1920 bis 1921 als Offizier der Tallinner Seefestung in Aegna diente. Dort drangen Kulturgrenzen in sein Leben. Der Lebensstil und die Kultur der Offiziere, besonders der russischen, die im Ersten Weltkrieg gekämpft und die Heimat verloren hatten, befand sich im tiefen Widerspruch zur Kultur seiner Kindheit und seinen intellektuellen Interessen. Er stieß bei der Selbstverwirklichung sehr heftig mit Kulturgrenzen zusammen. Daher entschied er sich, die Vergünstigungen als Veteran des Freiheitskrieges zu nutzen und an der Universität Tartu zu studieren. Dabei überwand er seinen bisherigen Widerwillen gegen die Rechtswissenschaften und das ihn anschließend erwartende Amt des Juristen.

Als junger Offizier kam Leo Leesment erstmals in seinem Leben 1921 nach Tartu. Als jemand, der in Livlands Hauptstadt Riga geboren und in Pärnu aufgewachsen war, hatte er bisher noch nicht die Stadt besuchen müssen. Im Alter, als er schon zu den kulturellen Sehenswürdigkeiten der Stadt zählte, berichtete er über das kleine Ungeschick als junger Offizier, mehrfach nach dem Weg vom Bahnhof zum Hauptgebäude der Universität fragen zu müssen.

Trotz des Status als Kriegsveteran und Offizier wurde er anfangs nur als Gasthörer immatrikuliert8, denn wegen des Weltkriegs besaß er noch kein Abitur. Unter den Altersgenossen stellte er aber keine Ausnahme dar, das gleiche Problem hatten viele junge Männer seiner Generation. Die vollen Rechte als Student erhielt er erst 1922, als er das Hugo Treffner-Gymnasium absolviert hatte, während er zeitgleich schon an der juristischen Fakultät studierte.

Leesments Jurastudium dauerte in Tartu bis 1925. Wegen seines erfolgreichen Lernens und auch wegen Wettbewerbsarbeiten konnte er die Lehrkräfte von seinen Fähigkeiten überzeugen – ihm wurde der Vorschlag unterbreitet, an der Alma mater zu verbleiben, um sich auf den Professorenberuf vorzubereiten. Die Hochschule wollte vollends auf Estnisch als Unterrichtssprache umsteigen und benötigte dringend gut ausgebildete junge Esten als Lehrkräfte9. Für ihre Vorbereitung war man bereit, auch Auslandsstudien zu finanzieren, doch zuerst sollte in der Heimat die Magisterarbeit abgeschlossen werden. Leesment wurde mit der Arbeit Der Livländische Rechtsspiegel und seine Abweichungen vom Sachsenspiegel (1926) der erste Absolvent der juristischen Fakultät der Universität Tartu, der nach 1920 an der Alma mater den Magistergrad verteidigen konnte. Er wurde zur Rechtswissenschaft auf die klassische Weise herangeführt, denn sein deutschbaltischer Betreuer Professor Karl Wilhelm Seeler (gest. 1925) ermöglichte ihm, aufs Neue das Thema der Doktorarbeit Professor Friedrich Georg von Bunges (1802–1897) anzugehen10. Dies war eine gute Wahl angesichts der Forschungsmöglichkeiten in westeuropäischen Archiven und Bibliotheken während eines Studien- und Forschungsaufenthalts dort.

Das 1927 in Wien aufgenommene Studium stellte für Leesment das Überschreiten einer wirklichen Kulturgrenze dar. Hierbei handelte es sich für den aus Livland gekommenen nicht um eine oder zwei Grenzen, sondern um ein ganzes Netzwerk von Kulturgrenzen, bei deren Überschreitung er sich bewähren musste. Die erste Phase nach der Ankunft führte sicherlich zu einem Kulturschock. Er hatte noch nie zuvor eine so große und kulturell so vielfältige Stadt erblickt. Konnte man vor dem Ersten Weltkrieg Wien vielleicht noch mit St. Petersburg vergleichen, dann waren 1927 eher Berlin, Paris oder London heranzuziehen. Heute wissen wir, dass diese Zeit für Wien keine gewöhnliche war, sondern eine goldene Ära. Damals konnte man wohl auf jeder Straße in der Innenstadt einen weltbekannten einflussreichen Wissenschaftler oder Künstler antreffen. Natürlich sollte mancher erst nach Leesments Aufenthalt bekannt werden. An der Wiener Universität war der Schul- und Freundeskreis Kelsen-Merkl-Verdross aktiv, den die Hochschule bis heute mit einer Gedenktafel erinnert11.

An der Wiener juristischen Fakultät bereiteten sich wenigstens drei zukünftige Professoren der Universität Tartu vor: Artur-Tõeleid Kliimann, Juhan Vaabel und Leo Leesment. Die Karriere der ersten beiden verlief unbesehen einiger Rückschläge recht geradlinig, aber Leesments formale Anerkennung in Tartu zögerte sich hinaus. Zur außerordentlichen Lehrkraft wurde er wohl schon 1928 ernannt, zum Dozenten jedoch erst 1934 und zum außerordentlichen Professor erst 1938. Zum ordentlichen Professor wurde Leesment in Tartu erst 1942, als er während des Zweiten Weltkrieges dem bereits schwer erkrankten Jüri Uluots bei seinem schwierigen Kampf um die Erhaltung der estnischsprachigen rechtswissenschaftlichen Fakultät half. Deshalb war Leesment dann in den Jahren 1950 bis 1956 Repressalien ausgesetzt.

 

4. Leo Leesment als Rechts- und Kulturwissenschaftler

Wenn Vater Jaan Leesment den Sohn als einen zukünftigen erfolgreichen oder zumindest praktischen Juristen sah, dann betrachteten ihn die älteren Kollegen relativ schnell und ohne größere Zweifel als einen Rechtshistoriker, wofür Leesment wegen seiner Haltung, Begabung und Vorbereitung besonders gut geeignet war. Doch es gab noch ein geeigneteres Fach für Leesment – anstelle der Rechtsgeschichte passte ihm eigentlich vergleichendes Recht am besten, doch an der Universität Tartu gab es dieses Fach nicht.

Die Klassifizierung als Rechtshistoriker bestimmte für Jahre das weitere akademische Schicksal Leesments. Wenn an der juristischen Fakultät insgesamt ein starker Bedarf nach jüngeren estnischen Lehrkräften bestand, dann zählte die Rechtgeschichte neben dem Internationalen Recht und dem Staatsrecht zu den Fächern, in denen der Bedarf schon gedeckt war durch Männer wie Jüri Uluots, Ants Piip und Nikolai Maim. Dies bedeutete für Leesment bessere Möglichkeiten sich über Jahre im Ausland fortzubilden,doch erlaubte es ihm nicht, eine mit den Altersgenossen vergleichbare schnelle akademische Karriere zu machen.

1927 wurde Jüri Uluots als erster Este in der Geschichte der Universität Tartu zum Professor für Rechtsgeschichte berufen. Uluots empfahl seinem Schüler, sich auf historisches Kriminalrecht zu spezialisieren und auf diesem Gebiet einen Überblick für Estland zu erstellen. Dieser Wunsch des Visionärs Uluots bezog sich auf einen längeren Zeitraum, als für das Abfassen einer Doktorarbeit nötig war. Von 1927 bis 1929 schrieb Leesment in Estland und im Ausland an der vorläufigen Version der Dissertation. Ihn betreuten auch ausländische Spezialisten wie die Professoren E. Goldmann, H. Hirsch, A. Dopsch und R. Bartsch. Es scheint, als hatte Leesment neben der Rechtswissenschaft noch ein anderes Interesse – der erste Absolvent der juristischen Fakultät in Tartu zu sein, der an der eigenen Hochschule promoviert. Kandidaten für diese Ehre gab es natürlich noch mehrere und am Ende erreichte Artur-Tõeleid Kliimann (1899–1941) als erster knapp vor Leesment das Ziel. Damit handelt es sich um ein klassisches Beispiel für die Theorie der Kulturgrenzen. Nämlich hatte die Universität Tartu und die juristische Fakultät einen derart intensiven Wechsel der Lehrkräfte in den Jahren 1918 bis 1920 mitgemacht, dass viele bis dahin selbstverständliche akademische Sitten und Gebräuche wiederbelebt werden mussten. In den dreißiger Jahren musste erneut der Qualitätsstandard für Dissertationen festgelegt werden.

Die juristische Fakultät stand anfangs unter großem Leistungsdruck, denn die estnischen Juristen, die vor dem Ersten Weltkrieg in St. Petersburg oder in Moskau studiert hatten, hielten anfangs das akademische Niveau in Tartu nicht für sehr hoch. Die Fakultät musste oft sehr streng sein, denn auf der einen Seite stand sie unter Beobachtung, auf der anderen wurde mit der ersten Doktorarbeit die Messlatte für die kommenden Jahre festgelegt. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, warum Leesments Dissertation zuerst abgelehnt wurde. Er arbeite daran deshalb bis 1931 weiter und konsultierte in dieser Periode aktiv die Professoren R. His (Münster), O. Martin (Paris) und E. Goldmann (Wien). Kas nimed on korrektsed? Da er ausreichend Zeit hatte, an der Doktorarbeit zu feilen, entsprach sie durchaus auch westeuropäischen Standards. Sicher, die Thematik umfasste nur einen Aspekt des historischen Kriminalrechts in Estland. 1931 erschien die Dissertation unter dem Titel Die Verbrechen des Diebstahls und des Raubes nach den Rechten Livlands im Mittelalter. Da seine Familie zwischenzeitlich ein tragischer Schicksalsschlag getroffen hatte12, nutzte Leesment die Möglichkeit des Aufenthalts im Ausland zusammen mit der Ehefrau. Diesmal lernte und forschte er für längere Zeit in Paris auf dem Gebiet der Sprachen sowie auf dem des Rechtsvergleichs.

Nach Estland zurückgekehrt, verteidigte er am 1. November 1932 seine Dissertation13. Einen Grund zur Freude hatte er wohl, denn mit Leesment beginnt die Liste estnischer rechtshistorischer Doktoren an der Universität Tartu. Doch die zwischenzeitlichen Schicksalsschläge, die zweifelsohne Wunden in seine Reputation im doch sehr kleinen gesellschaftlichen Kreis der Stadt schlugen, sowie das Fehlen einer Perspektive, Professor für Rechtsgeschichte zu werden, führten zu einer eher zurückhaltenden Freude. Es scheint, dass für Leo Leesment etwas sehr Wertvolles zu Bruch gegangen war. Dies charakterisiert die Tatsache, dass er nach der Promotion keine Urkunde des Doktordiploms bestellte14.

Heute können wir feststellen, dass Leesment zu seinem 30. Geburtstag bis zur Stufe eines Doktors der Rechtsgeschichte aufgestiegen war und damit qualifiziert, sich an der internationalen Forschung und Diskussion zu beteiligen. Zur Bestätigung der Qualifikation erschienen seine Publikationen vor dem Krieg in der Schriftreihe der Gelehrten Estnischen Gesellschaft und in Deutschland15, und 1951 in einer führenden sowjetischen historischen Zeitschrift ein Überblick über den Livländischen Rechtsspiegel16, der spätere Forscher inspirieren sollte17. Damit wurde Leesment auch unter den Rechtshistorikern des slawischen Sprachraums bekannt, was wiederum die Überschreitung einer Kulturgrenze
bedeutete18.

1931 hatte Leesment sicherlich ein wichtiges Ziel, die Vorbereitung der Veröffentlichung der Dissertation. Ihm war klar, dass es für ihn keinen schnellen Weg zur Professur gab. Später kandidierte er auf den Lehrstuhl für Privatrecht, was aber nicht glückte. Er war selber auch nicht davon überzeugt, ob ihm diese Aufgabe passen würde, widersprach sie doch seinen inneren Forschungsinteressen. Leesments innere Unsicherheit konnte die Kollegen nicht überzeugen und so wurde Elmar Ilus berufen.

1931 traf Leesment eine wichtige Entscheidung, er nahm in Frankreich an der École Nationale des Langues Orientales das Studium des Chinesischen und Türkischen auf, um sich seinen Jugendtraum zu erfüllen19. Das Jahr in Paris erweiterte Leesments Blickwinkel, doch weckte unter den ernsthaften Kollegen Zweifel, ob Leesment hundertprozentiger Jurist ist. Gleichzeitig schenkte ihm das Interesse für Sprachen die Gesellschaft der gebildeten Geisteswissenschaftler, unter denen er bis an sein Lebensende als ein ungewöhnlich gebildeter Jurist mit breitem Horizont galt. Leesment unterrichtete Juristen, doch dies streng nach dem Lehrplan, davon sprechen seine umfangreich erhalten gebliebenen Notizen. Nun können wir auch die zweite Seite der Interessen hinzufügen – seine geheimen Interessen –, die für die Kollegen der juristischen Fakultät bestenfalls als eine lächerliche Absonderlichkeit abgetan wurde.

Wenn wir eine weitere wichtige Linie in Leesments Leben suchen, dann muss diese in den siebziger Jahren gezogen werden, als man an der Universität Experten sammelte zwecks Erforschung der Hochschulgeschichte. Leo Leesment war für die Historiker verständlicherweise eine gute Entdeckung in der Gesellschaft der in bezug auf Geschichte meist stummen Juristen. Leesment war sich nicht sicher, als er begann für die Geschichte der Fakultät kleine Portraits zu schreiben, doch schließlich ging er in dieser Arbeit auf. Die 1982 erschienene dreibändige Ausgabe der Geschichte der Universität Tartu wäre in bezug auf die juristische Fakultät sicherlich nicht auf so einem hohen Niveau, hätte Leesment diesem Thema nicht Jahre geopfert. Daher kann von ihm als einem der Begründer personifizierter Geschichte in Estland gesprochen werden. Daher gebührt ihm auch eine entsprechende Stelle in der rechtshistorischen Geschichtsschreibung. Doch als jemand, der Leesment kannte, muss ich zugegeben, dass er, obgleich er viel über Juristen vergangener Zeiten schrieb, sich als traditionell ausgebildeter Rechtshistoriker nicht sicher war, ob er diese Richtung auch jüngeren Kollegen empfehlen konnte. Er wusste aus seiner eigenen Lebenserfahrung sehr genau, wie konservative Juristen Kollegen kritisieren konnten, die sich mit personifizierter Geschichte beschäftigten. Meine Zusammenarbeit mit Leo Leesment begann 1981 und führte bis zu einer gemeinsamen Publikation, als wir einen Überblick über „Die juristische Fakultät der Universität Tartu und ihre Dekane 1802-1918“ erstellten20. Die Kooperation mit einem älteren Kollegen stellte für mich sicherlich eine gute Schule dar. Im Text wurde auch etwas ausführlicher über Friedrich Georg von Bunge berichtet. Schon beim Abfassen dieses Aufsatzes wurde mir klar, dass die Rolle Bunges in der juristischen Fakultät dermaßen wichtig war, dass dieses Thema gründlicher behandelt werden muss.

Bunges Bedeutung überliefert auch der zweite Band der dreibändigen Geschichte der Universität Tartu aus dem Jahr 198221. Als Leesment noch lebte, sprachen wir öfter über Bunges Rolle in unserer Rechtswissenschaft und bei der Erforschung der estnischen Geschichte, doch zu praktischen Schritten führte dies nicht. Nach dem Tod Leesments (1986) entschied ich mich, das Andenken des von ihm so geschätzten Bunges den estnischen Juristen näher zu bringen22.

5. Leo Leesment als ein Mann aus Saarde, als Pärnuer,
als Tartuer und als Weltbürger

Wer Leo Leesment kannte, mag bestätigen, dass er beim Treffen mit neuen Menschen meist das Gespräch mit der Frage anfing, woher der andere komme (estn. “Mis kandi mees oled?”). Seine eigene Herkunft verband er in väterlicher Linie mit dem Kirchspiel Saarde. Er war stolz, dass Leesment ein estnischer Familienname war, der auf Deutsch einen Schlosser oder Kleinschmied bezeichnete. Daneben fühlte er sich als Pärnuer. Für manch einen Tartuer in den siebziger und achtziger Jahren strahlte er einen Pärnuer Geist aus, um sich wenigstens im sehr exakten Vergleich vom Tartuer Geist zu unterscheiden, der ein wenig die Praxisferne betonte. Mütterlicherseits stammte die Familie vier Kilometer nordöstlich von Lund in Schweden, hier war Leesment sehr genau23. Da er für Jahrzehnte in Tartu aktiv war, gewöhnten sich die Bürger daran, ihn für einen untrennbaren Teil der Stadt zu halten. Leesment vermochte hier sein Heim einzurichten und gemäß alter Sitte wurde er Tartuer Hausbesitzer mit allen Rechten und Pflichten. Daher scheint es nicht verwunderlich, seine Kurzbiografie in dem Band „1000 Tartuer verschiedener Epochen“ vorzufinden24. Als jemand, der viel in Europa gereist war und sich in die Kulturen des Ostens vertieft hatte, besaß er noch eine weitere Dimension, in der er alle Angelegenheiten auf ein allgemeines Niveau bringen wollte.

Besonders am Ende des Lebens versuchte er jüngeren Kollegen diese Denkweise zu vermitteln. Seiner Meinung nach solle man sich in eine andere Umgebung begeben, um den Kulturraum zu verstehen, in dem man sich momentan aufhalte. Diese Einstellung rettete sein Leben im sibirischen Lager. Hungernd in der Kälte habe er in den schwersten Momenten an Paris gedacht, was ihm in der verzweifelten Situation jene kleine Freude verschaffte, die nötig ist, um den Lebenswillen zu erhalten. Seinen Umzug in die Welt der Gedanken konnte keine bewaffnete Wache aufhalten. In bezug auf weltlichen Besitz konnte der politische Gefangene ohnehin nicht sicher sein.

1 Dies hat Jaan Kross (geb. 1920), der bei Leo Leesment an der Universität Tartu Jura studiert hatte, künstlerisch behandelt. Kross gab mir das Manuskript seiner Kurznovelle Eksam [dt. Examen] zur Lektüre, die das Schicksal Leesments im Jahr 1950 behandelt: „<...> er hatte die Möglichkeit an verschiedenen Orten der Welt den unterschiedlichen Regen zu vergleichen, doch nun (in Tartu) geriet er unter der neuen Macht vom Regen in die Traufe“. Kross weist auf Leesments damalige Möglichkeiten hin, in verschiedenen wissenschaftlichen Zentren Europas zu leben und zu arbeiten sowie auf die Repressalien der Machthaber nach dem Zweiten Weltkrieg. Leesment war vor dem Krieg zweifelsohne unter den Lehrkräften der juristischen Fakultät der Universität Tartu derjenige, der am meisten im Ausland gearbeitet und studiert hatte. Weit gereist war auch der Professor für Internationales Recht, Ants Piip, doch dies meist als Diplomat.

2 Professor Juri Lotman besaß Zivilcourage und er gedachte der für ihn wichtigen Kollegen ungeachtet dessen, ob sie von den Machthabern positiv angesehen wurden oder nicht. Er tat noch mehr – er dachte an Kollegen und besuchte sie auch dann, wenn sie auf der schwarzen Liste standen. So hielt er eine Rede auf dem Begräbnis des letzten Überlebenden der Konstituierenden Versammlung der Republik Estland, des Slawisten und in Tartu lebenden Polyglottes Dozent Villem Ernits.

3 Am Beispiel von Leo Leesments Leben kann die Thematik der Kulturgrenzen auf verschiedenen Ebenen behandelt werden. Schon die Bestimmung seiner Herkunft bietet dazu die Möglichkeit. Sein Vaterhaus in der Gemeinde Saarde liegt an der estnisch-lettischen Kultur- und Sprachgrenze. Leesment wurde durch eine Fügung des Schicksals in Riga geboren und er lernt in der Kindheit während des Aufenthalts bei den Großeltern Lettisch, worauf er bis an sein Lebensende stolz war. Seine Verwandten leben heute sowohl in Lettland als auch in Estland. Sehr aktiv ist der lettische Zweig der Familie, der intensiv die Geschichte der Vorfahren erforscht und Familientreffen organisiert. Grabsteine der Familie Leesment finden sich auch auf dem Friedhof von Ainaþi (Heinaste). Als interessantes Detail sollte erwähnt werden, dass auch der lettische Rechtshistoriker Romans Apsitis (geb. 1939) seine Kindheit im kulturell gleichen Gebiet jedoch auf der lettischen Seite verbrachte (seine Vorfahren mütterlicherseits stammen von der estnischen Insel Muhu). Verschiedene Kulturen trafen sich in Leo Leesments Elternhaus, denn mütterlicherseits stammte die Familie aus Schweden. Damit finden wir hier einen semiotisch mehrfach kodierten Text vor. Die Kindheit verbrachte Leesment in Pärnu in der Gartenstraße, die sich ebenfalls auf einer Kulturgrenze befand, denn dort verlief die Grenze zwischen den estnischen und deutschbaltischen Stadtvierteln. Als Kind soll er mit der Mutter Deutsch gesprochen haben und er sprach bis an sein Lebensende Deutsch in einer starken deutschbaltischen Variante. Der Sohn des karrieremachenden Advokaten Jaan Leesment musste in Hinblick auf seinen Stand auch die Kommunikationssprachen der Eliten des Zarenreichs beherrschen. Noch vor Beginn des Schulbesuchs soll er Russisch erlernt haben und Grundzüge des Französischen. Der in Pärnu begonnene Bildungsweg ermöglichte auch das Erlernen weiterer Sprachen. Auf dem mehr als acht Jahrzehnte andauernden Lebensweg versuchte Leesment stets, andere Kulturen und Subkulturen zu verstehen. Da er sich bis an sein Lebensende eine kindliche Neugier für Neues bewahrt hatte, konnte auch er sich nicht immer leicht kulturell einordnen. Seine breitgefächerte Bildung führte manchmal zu Rückschlägen, denn sie bereitete ihm bei der Themenwahl große Probleme im Vergleich zu stärker spezialisierten Kollegen mit enger gefassten Interessen. Diese erreichten manch ein formales Ziel deshalb eher als Leesment.

4 Leo Leesments Erinnerungen siehe: Õiguse ajaloo grand old man, in:Kirjutamata memuaare. Katkendeid kaasaegsete elukroonikast helilindil kogunud ja paberile pannud Lembit Lauri. Tallinn: Perioodika 1989, S. 14–26.

5 P. Järvelaid. Leo Leesment (1902–1986) – 90, in: Eesti Jurist (1992), Nr. 2, S. 152f.

6 Jaan (Johann) Leesment, in: Tartu ülikooli üliõpilaskonna teatmik. Album academicum Universitatis Tartuensis 1889–1918. 1. Bd. Hrsg. von R. Kleis. Zusammengestellt von S. Kodasmaa, M. Loit, S. Nõmmeots, V. Pütsep. Tartu 1986, S. 25; siehe auch Jaan Leesments Akte als Student in Tartu, EAA [Eesti Ajalooarhiiv, Estnisches Geschichtsarchiv], f. 402, n. 2, s. 14459.

7 Im April 2002 wurde in Pärnu in der Gartenstraße am Haus der Leesments eine Gedenktafel enthüllt, die sowohl an den ersten estnischen Bürgermeister Pärnus und Advokaten Jaan Leesment als auch an seinen Sohn Leo Leesment, den Professor der Universität Tartu, erinnert.

8 Leo Johann Leesment, in: Album Academicum Universitatis Tartuensis 1918–1944. 2. Bd. Hrsg. von L. Lindström, T. Hiio, H. Tamman, E. Hiio, A. Hilpus, L. Pahtma, A. Kuusik; 1976–1990 /mida need aastad näitavad?/ S. Nõmmeots, M. Loit, S. Kodasma, V. Pütsep. Tartu 1994, S. 197, Nr. 2978. /mida nr 2978 tähendab?/

9 Leo Leesment studierte als Magisterkandidat in Tartu zusammen mit solchen für Estland bedeutenden Rechtswissenschaftler und späteren Professoren wie Ernst Ein, Artur-Tõeleid Kliimann, Nikolai Kaasik, Elmar Ilus und Juhan Vaabel.

10 P. Järvelaid. Friedrich Georg von Bunge (1802–1897) – 190, in: Eesti Jurist (1992), Nr. 2, S. 148–151.

11 Leo Leesments Erinnerungen siehe Õiguse ajaloo grand old man, S.14–26.

12 Auch innerhalb der Familie traf Leesment in mehreren Fragen auf Kulturgrenzen. Anfangs hatte er Probleme damit, dass die Familie sehr konservativ darüber dachte, dass die Kinder selber über ihr Schicksal entscheiden wollten. Jaan Leesment war ein Aufsteiger, der seine Karriere im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts machte, als sich in der Ständegesellschaft größere Möglichkeiten der Mobilität entwickelt hatten. Doch im 20 Jahrhundert schien die bis dahin so sichere Lage eher instabil. In vielen Bereichen wurde eine Neuorientierung nötig, um alles zu verstehen angesichts der Situation der Stadt Pärnu. Die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts waren nicht leicht zu erfassen für Leo Leesment. Dabei spielte sicherlich auch der doch eher kleinbürgerliche Hintergrund der Erziehung in Pärnu eine Rolle und hinterließ Spuren, die er bis an das Lebensende verspürte. Tartu war sicherlich im Vergleich zu Pärnu keine größere Stadt, doch gab es im hiesigen Milieu mehr Akademiker und Bohemiens, womit Leesment nicht immer zurecht kam. Seine erste große Liebe und die Ehe scheiterten. Später bedauerte er seine nicht angemessene Reaktion auf die Schattenseiten der Emanzipationsbestrebungen seiner Frau, doch es war zu spät die Ehe zu retten. Auf die erste folgte die zweite Ehe mit einer Sekretärin der juristischen Fakultät, die im Wirtschaftszweig des Fachbereichs studiert hatte, Elfriede (Elli) Rosalie Pastel (1903–1984). Doch ganz besonders wegen der Fähigkeit der zweiten Ehefrau, sparsamer zu leben (või besser zusammenzuhalten), war dieser Ehe eine längere Zeitspanne beschert. Sie dauerte von 1929 bis zum Tode Ellis 1984 an. Die Unglücksfälle, welche das junge Paar verfolgten, riefen bei Leo Leesment sicherlich seelische Verwirrung hervor. Nach dem Tod des ersten Kindes nahm die Familie einen radikalen Schritt vor und verließ Tartu, um sich von der stresserregenden Umgebung zu befreien. Das Leben in Paris in den Jahren 1931 und 1932 bot eine gelungene Abwechslung und war eine Zeit des Sammelns von Energie, doch konnte sie nicht die Wunden heilen, die das Schicksal in kurzer Zeit der Familie und dem Vater geschlagen hatte.

13 In Frankreich rezensierte Professor Oliver Martin aus Paris die Dissertation Leo Leesments in der Zeitschrift Revue historique de droit francais et étranger (1932, Nr. 1, S. 196).

14 Später, am Ende der siebziger Jahre, vertraute mir Leo Leesment im privaten Gespräch an, dass er keinen Sinn darin gesehen hatte, diese 10 Kronen auszugeben. Denn in Tartu wussten ohnehin alle bescheid auch ohne dieses Dokument, dass er promoviert war, und für das Ausland hätte er sich eine deutsch- und französischsprachige Beglaubigung aus der Hochschulkanzlei besorgen können, dass er in Tartu zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert worden war. Leesment war zuhause so erzogen worden, dass Geld in jedem Fall zu sparen sein und bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinzuzuverdienen. Es gelang ihm sogar zusammen mit seiner Frau Elli ein Haus im Tartuer Stadtteil Tähtvere auf der Jakobson-Straße Nr. 13 nach den Plänen des bekannten Tartuer Architekten Matteus bauen zu lassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Erwerb von Immobilien sehr schwierig war, konnte er Geld sparen, auch weil er durch das Schreiben hinzuverdiente, und ein Sommerhaus in Valgemets erwerben.

15 L. Leesment. Über die livländischen Gerichtssachen im Reichsgericht und im Reichshofrat, in: Acta et Commentationes Universitatis Tartuensis (Dorpatensis). Tartu 1929, B; XVIII, 2; L. Leesment. Über das Alter des Livländischen Rechtsspiegels. – Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 50 (1930). Germanistische Abt, S. 171–179;
L. Leesment.. Abweichungen des Livländischen Rechtsspiegels vom Sachesenspiegel, in: Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, 1938, 30, I, S. 348–358.

16 L. Leesment. “Livonskaja Pravda”, in: Istorièeskij Arhiv. Band VII. Moskau 1951.

17 Siehe E. L. Nazarova. “Livonskije Pravdy” kak istorièeskij istoènik, in: Drevneiðie gosudarstva na territorii SSSR. Materialy i issledovanija. Moskau: Nauka 1980, S. 5–233.

18 Die Rezeption Leesments im russischsprachigen Wissenschaftsraum wurde von den bekannten Historikern
B. D. Grekov, einem Mitglied der Akademie der Wissenschaften, und S. F. Ketsekjan gefördert, die er kurz nach dem Krieg bei einem Aufenthalt in Moskau kennengelernt hatte.

19 In der juristischen Fakultät der Universität Tartu gab es in den dreißiger Jahren auch andere Kollegen, deren Interessen weitergefächert waren als nur in der Rechtswissenschaft. So hatte der erste estnische Professor für Kriminalrecht, Karl Saarmann, in St. Petersburg während des Jurastudiums auch das Konservatorium besucht, sein späterer Nachfolger Helmut Kadari (Kristall) aber bei Laikmaa Kunst gelernt usw.

20 P. Järvelaid, L. Leesment. Tartu ülikooli õigusteaduskonnast ja dekaanidest aastail 1802–1918, in: Nõukogude Õigus (1981), Nr. 4, S. 262–267, Nr. 5, S. 353–357.

21 L. Leesment, A. Uustal. Õigusteadus, in: Tartu ülikooli ajalugu. 2.Bd. (1798–1918). Hrsg. von K. Siilivask. Tallinn: Eesti Raamat 1982, S. 171f.

22 Bei dieser Arbeit bildete sich umgehend eine fruchtbringende Kooperation mit dem Museum für die Geschichte der Universität Tartu heraus. Gemeinsam organisierten wir in Tartu 1987 ein erstes Seminar über Bunge. Die Teilnehmer kamen zur Schlussfolgerung, dass über ihn unbedingt eine Monografie verfasst werden müsse, dies helfe die (Rechts-) Geschichte Livlands im 19. Jahrhundert besser zu verstehen sowohl in Estland wie in Lettland. Eingeladen war auch der lettische Kollege Romans Apsitis, denn wir wünschten die Bunge-Forschung im ganzen Baltikum voranzutreiben. Doch anfangs gelang es nicht eine reale Zusammenarbeit mit den lettischen Kollegen anzubahnen, doch Interesse bestand und ein Verständnis für die Notwendigkeit war auf beiden Seiten vorhanden. Die Zeit war wirklich reif, denn auch deutsche Historiker beschäftigten sich mit dem Thema. Damals erschien eine heute schon als klassisch angesehene Übersicht über die baltische Historiografie, in der besonders der umfangreiche Aufsatz Erik Amburgers beflügelte „Die Geschichteschreibung an der Universität Dorpat in den ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Diese Übersicht erschien in einem Sammelband, der von Georg von Rauch herausgegeben wurde, eines Absolventen der Universität Tartu: „Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung“ (Köln-Wien: Böhlau 1986). 1989 beendete ich meine Kandidatendissertation, die ich im folgenden Jahr in Moskau verteidigte. Thema der Dissertation war die Frage, wie der rechtliche Status der Universität Tartu den Unterrichtablauf und die Berufung von Lehrenden beeinflusste sowie die Unterrichtssituation an der juristischen Fakultät. Selbstverständlich konnte ich Bunge nicht ignorieren als einen Absolventen der juristischen Fakultät und als Lehrkraft, darunter besonders die Professur in den Jahren 1831 bis 1842. Gestützt auf die Dissertation und erweitert um neuere internationale rechtshistorische Literatur, die ich während meiner Tätigkeit an der Universität Kiel bearbeitete, erschien 1992 mein Überblick über die Geschichte der juristischen Fakultät der Universität von 1632 bis 1992, in dem ich auch Bunge behandle. Im selben Jahr wurde in der Zeitschrift Estnischer Jurist der bisher gründlichste Aufsatz in estnischer Sprache anlässlich des 190. Geburtstages Bunges publiziert (Nr. 2, S. 148ff.). Natürlich bewegte mich bei dem Gedanken, Bunges Biografie zu bearbeiten, auch der Gedanke, seine Tätigkeit in den europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Bei dieser Arbeit wurde ich auch vom wissenschaftlichen Nachwuchs unterstützt. So schloss meine Schülerin Marju Luts 1993 ihre Magisterarbeit ab, die im folgenden Jahr publiziert wurde. Marju Luts entwickelte ihre Arbeit aber weiter und sie bildete dann einen großen Teil ihrer im Jahr 2000 in Tartu verteidigten Dissertation.

23 Õiguse ajaloo grand old man, S. 14f.

24 1000 tartlast läbi aegade. Tartu 2003, S. 218.