I. Die doppelte Bestattung des Polyneikes
Die zweite – eventuell die erste – Bestattung des Polyneikes ist unnötig, sie verstößt sogar gegen die Wirklichkeit. Darum glauben manche Philologen, daß die erste Bestattung außerhalb des Dramas liege oder auf einem Fehler des Sophokles beruhe. Diese Verdoppelung der Bestattung – wie überhaupt jede Verdoppelung einer Handlung im Drama – ist ein ästhetisches Mittel, das von Sophokles gern gebraucht wird. Vergleiche, z. B., den doppelten Bericht über die Ankunft des Herakles in den „Trachinierinnen“, die doppelte Enthüllung der Lüge des Lichas im selben Drama, die Verdoppelung der Ankunft des Teukros im „Aias“ u. dergl. mehr. Solche Verdoppelungen erhöhen die Wirksamkeit einer Szene außerordentlich, und Sophokles läßt sogar einige Verstöße gegen die Wirklichkeit zu, um dieses ästhetische Mittel zu verwirklichen.
II. „Antigone“ 904-920.
Diese Verse befinden sich in der großen Abschiedsrede der Antigone (891-927). Daher ist es nicht statthaft, sie vom Zusammenhang loszulösen und vereinzelt als ein unglückliches Einschiebsel zu betrachten. Antigone wird zum Tode geführt. Sie fühlt sich von allen verlassen, sogar der Chor läßt sie im Stich. Und doch hat sie nicht, wie manche glauben, den Kopf verloren. In dieser verzweifelten Lage fühlt sie das Bedürfnis, ihre Tat, wenn nicht vor ihren Feinden, so doch wenigstens vor ihr selbst zu rechtfertigen. So entsteht dieser Monolog, den man als eine Rechtfertigungsrede zu betrachten muß. In ihr sehen wir dreifache Rechtfertigung: 1) vor den Toten; 2) vor den Lebenden und 3) vor den Göttern.
Sie findet eine Rechtfertigung vor den Toten darin, daß sie sie sittengemäß bestattet hat. Was die Lebenden betrifft, so entschuldigt sie ihre Tat, indem sie dem Bruder einen höheren Platz als ihrem eigenen Mann und sogar den eigenen Kindern einräumt. Schließlich sollten auch die Götter mit ihrer Tat zufrieden sein, da sie den göttlichen Gesetzen gemäß gehandelt hat.
Nun zur Rechtfertigung vor den Lebenden. Die Argumente der Antigone scheinen uns verunglückt, unheroisch, utilitarisch zu sein. Sie waren selbstverständlich zu Zeiten des Mutterrechts, aber „Antigone“ ist im 5. Jh. vor unserer Zeitrechnung geschrieben worden. Und dennoch gab es auch im Zeitalter der großen Tragiker manche Überreste der mutterrechtlichen Anschauungen, die die Argumente der Antigone verständlich machten. Hätte doch Aischylos Eumen. 605 nie geschrieben, wenn er nicht gewußt hätte, daß viele mutterrechtliche Anschauungen den Athenern des 5. Jhs. bekannt waren! Was den Utilitarismus betrifft, so ist es zu bemerken, daß ein gewisser Utilitarismus mit dem antiken Heroismus keineswegs unvereinbar ist. Beschränken wir uns auf „Antigone“: utilitarisch sind ja auch die Verse 74-75, und 456-459.
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