Euripides kritisierte die primitive griechische Religion und versuchte die Mythen und die Ereignisse der Natur und des menschlichen Lebens – soweit die Spezifik der antiken tragischen Dichtung es zuließ – natürlich, d. h. ohne übernatürliche Kräfte zu erklären. Darum nennt man ihn einen Rationalisten. Und doch wäre es nicht ratsam, diesen Terminus der Neuzeit ohne Weiteres auf Euripides anzuwenden, denn 1) wir wissen nicht, ob Euripides irgendeinen philosophischen Ersatz für die primitive Religion hatte (das Lob auf Ananke in „Alkestis“ und in gewissem Grade auch das Problem der „Bakchanten“ weisen auf diese Richtung hin), und 2) es ist schwierig, aus dem Wirrwarr der verschiedensten und oft entgegengesetzten Meinungen, die die handelnden Personen im Laufe der tragischen Handlung äußern, die Meinung des Dichters selbst zu erraten – es wäre vielleicht besser, nicht über den Rationalismus des Dichters, sondern über die rationalistischen bzw. irrationalistischen Züge seiner Dichtung zu sprechen.
Manche Philologen bezeichnen als rationalistisch denjenigen, der verstandesmäßig handelt und die Vernunft über seine Gefühle und Leidenschaften walten lässt – im Gegensatz zu einem Irrationalisten, bei dem die Leidenschaften die Oberhand gewinnen. Daher sehen die einen den Euripides als einen Rationalisten, die anderen als einen Irrationalisten an. In diesem Sinne sind beide Auffassungen richtig: die Problemstellungen, der logische Aufbau der Dialoge der handelnden Personen und ähnliche Dinge zeigen, dass der Dichter rationalistisch eingestellt war, die starke Leidenschaftlichkeit einer Medea und einer Phaidra andererseits weisen auf eine Irrationalität hin. Nun ist ja jedem menschlichen Wesen eine Doppelseitigkeit eigen: einerseits ist er ein rationales Wesen, das von der Vernunft regiert wird, und andererseits – ein irrationales, das sich von den Leidenschaften beherrschen lässt. Daher ist es nicht statthaft, den Euripides einseitig zu charakterisieren, d. h. ihn entweder einen Rationalisten oder einen Irrationalisten zu nennen. Diese beiden Begriffe könnte man ja auch auf Sophokles und Aischylos anwenden, weil die Dichtung dieser beiden Tragiker sehr vieles enthält, was man rationalistisch bzw. irrationalistisch nennen könnte. Und doch sind sowohl rationalistische als auch irrationalistische Züge bei Euripides in viel stärkerem Maße vertreten, als es bei Sophokles und Aischylos der Fall ist. Dafür gibt es meines Erachtens zwei Gründe: 1) im Gegensatz zu Sophokles beschränkt Euripides die Reden seiner handelnden Personen nicht auf das Allernotwendigste und das für die gegebene Situation am meisten Passende, sondern fügt oftmals vieles hinzu, was man als abschweifig oder überflüssig ansehen dürfte. So macht z. B. deus ex machina viele Prophezeiungen („Elektra“, „Bakchen“), die unnötigerweise das Interesse des Publikums von der jeweiligen dramatischen Situation ablenken; so sind manche Stasima des Chors (z. B. das 4. Stasimon der „Iphigenia auf Tauris“) und die Beschreibung der Natur (im Prolog des „Ion“, im „Phaethon“). Diese verschwenderische – „unökonomische“, wenn man so sagen darf – Handhabung des poetischen Materials gibt dem Dichter unzählige Gelegenheiten, Rationalistisches in seine Dichtung einzufügen.
2) Euripides dringt viel tiefer und gründlicher in das Innere des Menschen ein, als es Sophokles und Aischylos möglich war. Dieses Eindringen in das innerste Wesen des Menschen ermöglicht Euripides, viele Irrationalitäten der menschlichen Seele aufzudecken.
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